Udo hat geschrieben:
...
Das Beispiel Engel zeigt mir den manchmal doch begrenzten Nutzen mehr oder weniger psychologisierender Interpretationen. Austen hat Sir John hier und anderswo im Buch bestimmt nicht veralbert, weil sie unverheiratet war. Aber warum macht sie es dann? Hat das eine sozialkritische Komponente, weil sie reiche und zugleich sehr dekatente und grenzdebile Menschen vorführt (so, wie sie es auffallend oft tut)? Oder hat sie einfach Spaß daran, kuriose Gestalten durch den Kakao zu ziehen - quasi sinnfrei? Oder hat das eine bestimmte, vielleicht sogar notwendige Funktion für die Handlung? Braucht Austen Deppen, um die Helden besonders positiv abzuheben?
Du kannst auch das wieder umdrehen. Wollte sie nicht heiraten, weil sie fand, es gäbe in ihrem Umfeld nur Deppen, mit denen sie nicht den Rest ihres Lebens verbringen wollte, und hat sie genau diese Deppen nachgezeichnet?
Ihre Charaktere bestechen ja im Gegenteil durch ihre Alltagstauglichkeit, bzw. den Wiedererkennungswert. Ich zumindest kenne einige, auf die ihre Beschreibungen genau so oder ähnlich umzusetzen wären. Wohlbemerkt ungeachtet des Geschlechtes.
Und ja, was für einen Sinn hätte es z.B. Lizzie einen Antrag ablehnen zu lassen, wenn die spätere Wahl dann auf den gleichen Schlag Mann fallen würde?
Wobei ich nicht wirklich finden kann, dass sie überzeichnet sind. Collinses, also "Arschkriecher", "Schleimspurer", usw. gibt es wie Sand am Meer, Wickhams (Spieler, Faulenzer, Bonvivants, über ihre Verhältnisse Lebende, etcpp.) auch. Selbst Mr. Bennet macht keine Ausnahme. Ich kenne einige Mrs. Bennets, Janes, Lydias, Emmas, Mariannes, um nur einige zu nennen auch.
*Nachtrag*
Die Frage der scheinbaren Überzeichnung der Charaktere, in gewissem Sinne Parodie, würde sich vermutlich gar nicht stellen, wenn Jane, was ich nachgerade liebe, nicht bei der Darstellung gewisse prägnante Merkmale verwendet hätte, sich aber mehr oder weniger überflüssige Details sparen würde. Das führt eben dazu, dass sich jeder selbst ein Bild macht, andererseits die Darstellung in ihren Wesensgrundsätzen sehr, nennen wir es dominant wirkt. Hätte Jane die Charaktere jedoch in allen Einzelheiten, wie Vorlieben, Abneigungen, auch Aussehen etcpp dargelegt, wären oder erschienen die Charaktere zwar "normaler", weil breiter gefächert, wären für mich aber eher gleichförmig, diffus und austauschbar, weil sie sich untereinander eben nicht so deutlich kennzeichnen und absetzen würden. Wisst ihr, was ich meine?
Zumal um den Faden weiterzuspinnen, je mehr Details über die Charaktere bekannt sind, umso mehr kann man sich darin wiederfinden und umdo "näher" sind sie dem Leser als Gesamtpaket, was naturbdingt auch dazu führen würde, dass die Antihelden allzu menschlich wären und nicht so deutlich in der Ausprägung ihrer Stellung. Anders gesagt, ein Collins z.B. oder ein Wickham könnten einem dann eventuell sogar leid tun. Und das ist nicht gewollt. Speziell bei Willoughby und Crawford sind die Charakterzeichnungen so perfekt, dass man sie anfangs für "tolle Kerle" hält.
Im Übrigen kann man auch argumentieren diese Überzeichnungen träfen nicht nur Kleinadlige, Esquires sondern auch Kirchenmänner und natürlich die Gattinnen derselben. Käme man auf die Idee, sie mache die Damen der Gesellschaft zu Idiotinnen, Nervenbündeln, oberflächlichen Hüllen, usw. weil sie verbittert ist und ihnen ihre Stellung oder den Status einer Gattin nicht gönnt?
Desweiteren könnten wir auch darüber diskutieren, warum die Schwestern Bennet einzigartig sind, bzw. eine jede einen ganz eigenen Charakter verkörpert, selbst Kitty die Lydia scheinbar fast gleicht und insofern dann auch überzeichnet sind, um sie eben in ihrer Einzigartigkeit darzulegen. Aber vielfache Eltern wissen es, jedes Kind, und hat man ein Dutzend, ist anders als die Anderen. Welche Geschichten hätten sich ergeben, hätte man die Schwestern sich mehr gleichen lassen, Jane nicht als die Sanfte, Schöne hervorgehoben, Lizzie nicht als die Kluge, Spritzige, Mary nicht als die Mittlere, die verzweifelt versucht sich von den Anderen abzuheben, hervorzutun und darin kläglich scheitert, usw?
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Grüsse, Caro
Avatar: Amelia Darcy (1754-1784)
Für 1 Jahr säe einen Samen, für 10 Jahre pflanze einen Baum, für 100 Jahre erziehe einen Menschen. chin. Weisheit