Teil 1:
In der dunkelsten Ecke der Kantine saß Pamela. Ihr langes, kastanienfarbenes Haar fiel ihr in leichten Wellen auf die Schultern herab und umrahmte ihr hübsches Gesicht. Sie hatte den Arm auf dem Tisch abgestützt und ihr Kopf ruhte auf ihrer zur Faust geballten Hand. Der Blick war in die Ferne gerichtet, hinaus aus dem Gebäude. Sie saß vor einem großen Panoramafenster und betrachtete das herbstliche Trieben, dass fallen des Herbstlaubes, dass im Sturm hin und her getrieben wurde. Sie war so versunken, dass der Kaffe, der in einer großen Tasse vor ihr stand, schon längst nicht mehr dampfte. Ulrich wagte sich in ihre Richtung und setzte sich zu ihr. Pamela war so in ihre Gedankenwelt versunken, dass sie ihn erst nicht bemerkte. Eine zeitlang saß er nur still da und musterte ihre Gesichtszüge – sie sah traurig aus. „Sprichst du nicht mehr mit mir?“. „Wie bitte? Entschuldige, was hast du gesagt?“, Pamela fuhr erschrocken hoch. „Ich war ganz in Gedanken.“. „Das hat man gemerkt, du wirkst schon den ganzen Tag so abwesend. Geht es dir nicht gut?“, forschte Ulrich, dem das merkwürdige Verhalten seiner Kollegin bereits aufgefallen war, besorgt nach. „Oh doch, es geht mir gut blendend. Mach dir um mich keine Sorgen.“. Eilig griff Pamela nach ihrer schwarzen Sporttasche und ihrem Mantel. Der schnelle Aufbruch verwunderte Ulrich dann doch. Vorerst aber schwieg er. Im Moment machte hier im Theater jeder eine schwere Zeit durch. Der Premierentermin rückte mit jeder verstrichenen Stunde unaufhörlich näher. So war es nicht verwunderlich, dass das gesamte Team gestresst und abgespannt wirkte. Er selbst, fühlte sich heute ziemlich gerädert und war froh, wenn er nach diesem langen Tag endlich in sein Bett konnte. Noch lange nachdem Pamela ihn verlassen hatte, starrte er auf ihren verwaisten Platz. Ihre Kaffeetasse stand noch immer auf dem Tisch und der Abdruck ihres Lippenstiftes auf dem schneeweißen Porzellanrand, schimmerte wie eine Rose im Schnee. Mit einem Mal schreckte Ulrich wie von der Tarantel gestochen, hoch. Draußen hatte es bereits angefangen zu dämmern und ihm wurde erst jetzt bewusst, dass er einen wichtigen Termin mit seiner Choreographin verpassen würde, wenn er sich nicht beeilte. Schnell raffte er seine Unterlagen und Jacke zusammen und rannte durch die im Moment noch menschleeren Flure, bis er die Probenbühne, jetzt schon hell erleuchtet, vor sich sehen konnte.
Genau eine Woche später standen Ulrich und Pamela auf der Hauptbühne um ihre Generalprobe abzuhalten. Es wurde das Stück „Die Nachtigal und die Rose“ nach einer Erzählung von Oskar Wilde, geprobt. Wie bei solchen Proben üblich, ging vieles schief. Angefangen bei der Beleuchtung, bis hinüber, dass sich eine Tänzerin aus dem Ensemble den Fuß böse verstauchte. Ulrich fiel sofort auf, dass Pamela nicht richtig bei der Sache war. Wenn sie sich unbeobachtet fühlte presste sie ihre Hände immer wieder auf ihren Bach. Er sprach sie darauf an und sie erwiderte genervt, immer wieder dieselben Phrasen vor sich hin redend, „ES geht mir blendet, was du dir da wieder mal zusammen phantasierst!“. „Ich bin doch nicht blind, auch wenn das hier sonst niemand bemerkt, dir geht es verdammt schlecht. Vertraust du deinem alten Freund etwa nicht mehr?“. Ihr Gesicht wirkte in der künstlichen Beleuchtung ihrer Garderobe noch blasser, als wie es in Wirklichkeit war. Aufgewühlt rannte Pamela aus dem Raum und hörte noch die Worte hinter ihr hereilen. „Warum läufst du immer vor mir davon?“ Hab ich irgendetwas falsch gemacht?“ „Nein, falsch hatte er bis jetzt noch gar nichts gemacht.“, dachte Pamela, als sie den Korridor hinunter eilte. Sie lief auf die Straße hinaus und der Regen, der heute einfach nicht aufhören wollte, lief in kalten Strömen über ihren Körper und durchweichte ihre Kleidung, bis diese sich wie eine zweite, kalte Haut um sie wölbte. Der Wind peitschte in ihr Gesicht und ihre Tränen vermischten sich mit den Tropfen, die aus dem Himmel auf sie hinab fielen. Pamela kämpfte sich durch dieses Unwetter zu ihrer Wohnung, die nur ein paar Straßen vom Theater entfernt lag. Während sie noch lief, presste sie unentwegt ihre Hände auf den Bauch. Die Schmerzen waren heute wieder unerträglich. Als Pamela die Wohnungstür aufschloss, zog sie sich rasch aus und legte sich mit einer Wärmflasche ins Bett und versuchte zu schlafen. „Wo soll das nur hinführen? Wie soll ich die Premiere morgen überstehen? Ulrich ist so lieb zu mir, er macht sich bestimmt große Sorgen um mich und was tue ich? Ich kann mit ihm nicht darüber reden, er würde mich sofort in ein Krankenhaus bringen. Aber ich muss einfach die Rolle morgen spielen – ich muss einfach und niemand wird mich davon aufhalten. Ich bestimme selbst, was ich tu und lasse!“, all das und noch vieles mehr ging ihr durch den Kopf, als der Schlaf sie in sein Reich ziehen wollte.
Der nächste Abend näherte sich mit großen Schritten. Alle Darsteller saßen in ihren Garderoben, schminkten und zogen sich um. Pamela saß angespannt in ihrer Umkleide und ging in ihrem Geist noch einmal alle Texte durch. Dabei schminkte sie sich und hielt den Rougepinsel verkrampft in der Hand, als Ulrich den kleinen Raum betrat. „Lass uns jetzt nicht diskutieren, ich muss mich auf meine Rolle vorbereiten!“, erhob Pamela sofort aufgebracht ihre Stimme. „Deswegen bin ich nicht gekommen, ich wollte dir nur das hier bringen.“ Er drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf ihre tiefrot geschminkten Lippen. „Was guckst du so erschreckt? Ist irgendetwas?“, fragte er, als er ihren verwirrten Blick sah. „Nein, aber…“, ihre Stimme erstarb. „Ist nicht so wichtig.“, setzte sie dann noch hinzu.
Jetzt waren all diese Dinge vergessen, die Darsteller standen im Scheinwerferlicht der Bühnenbeleuchtung und gingen ganz in ihren Rollen auf. Die Vorstellung verlief ganz ohne Zwischenfälle. Jeder gab sein Bestes und das Publikum ließ sich von der Geschichte so hinreißen, dass wilde Begeisterungsstürme schon am Ende des ersten Aktes zu beobachten waren. In der Pause zog sich jeder der Akteure in seine Kabine zurück, um sich etwas ausruhen und neu stylen zu können. Die Vorstellung wurde fortgeführt. Man gelangte zu der ergreifenden Stelle, an der Pamela, die die Rolle der versinnbildlichten Nachtigal übernahm, in einem mit dunklen Federn bestickten, tiefschwarzen Kleid mit langer Schleppe, sich einen Dorn an die Brust drückend und im Mondschein ihr Klaglied sang. Sie bohrte sich den Dorn immer tiefer und tiefer in ihr Brustgefieder, bis es die Haut durchstoßen und bis zum Herzen des Vogels vorgedrungen war. Ein kleiner Beutel, der mit Kunstblut gefüllt war, befand sich auf der Innenseite des Kleides und war auf Herzhöhe angebracht. Bald wurde er durchstoßen und ließ zu Beginn Tröpfchen für Tröpfchen des Blutes aus dem Inhalt seines Beutels. Dadurch bildete sich auf dem Schwarz des Kleides, zuerst ein kleiner roter Fleck. Die Nachtigal – also Pamela, sang unter weiterem Stoßen des Dorns, ihr wunderschönes, aber trauriges Lied. Die Bühne war in gedämpftes Licht getaucht und die Zuschauer waren ergriffen von der emotionalen Darstellung dieses dramatischen Liedes.
Singen muss ich die ganze Vollmondnacht, damit mein Herzblut der Rose ihre Farbe schenkt
Singen muss ich bis der Morgen graut, bis der letzte Tropfen mich verlässt und ich meine letzte Ruhe finde.
Singen muss ich bis der Tod mich holt, damit die Liebste sich auf Ewig an ihren Jüngling hängt.
Nach diesem ergreifenden Solo Pamelas, sank sie auf dramatische Weise auf die Bühne, die wie eine Waldboden im Herbst wirkte. Sie fand sich zum Sterben auf einer Lagerstätte, aus buntem wunderschönem Herbstlaub wieder. Ihre Mimik und Gestik, die so natürlich wirkte, ergriffen die faszinierten Zuschauer. Nun lag ihr Körper, wie Tod auf der Erde, den Dorn, den sie sich ins Herz gestoßen hatte, in ihrer rechten schneeweißen, ausgestreckten Hand, verschmiert mit dem Blut, welches sie aus Liebe gab. Aus dem eingenähten Beutel, liefen die letzten Tropfen ihres Lebenssaftes, die sich ihren Weg durch die Stoffschichten suchten und zur Erde tropften. Hier brach die noch laufende Show abrupt ab. Ulrich, der jetzt eigentlich die Bühne betreten sollte, um zufällig den toten Vogel zu finden, stürmte auf Pamela zu. Er hatte beobachtet, dass sie ihren Zusammenbruch nicht nur gespielt hatte. Um keine unnötige Aufmerksamkeit auf sie zu lenken, kauerte er sich neben sie und berührte wie zufällig ihr Gesicht, Ulrich spürte die Hitze auf ihrer Haut, sie hatte zu Fiebern begonnen. Schnell hob er sie hoch und trug sie schleunigst in ihre Kabine. Die Zuschauer im Saal ahnten nicht, was sich da hinter der Bühne ereignete. Die Show wurde improvisiert zu Ende geführt. Der Regisseur, der von der ungeplanten Abänderung seines Stückes alles mitbekommen hatte, machte sich umgehend auf den Weg in die Garderobe Pamelas. Als er dort eintraf, sah er ihren Körper auf dem Sofa, welches sich in der Ecke des Zimmers befand, gebettet. Ulrich kniete auf dem Boden und wickelte sie in ein paar Decken ein. Sie wurde von starken Fieberanfällen geschüttelt und war noch ganz benommen. Immer wieder presste sie ihre Hände auf ihren Bauch und stöhnte vor Schmerzen auf. Ulrich hatte dem Regisseur in kurzen Worten die Umstände erklärt. Pamela war auf der Bühne ohnmächtig geworden und er habe sie hier hin getragen und den Notarzt alarmiert. Damit dieser auch den schnellsten Weg zur Garderobe fand, verließ der Regisseur unverzüglich den Raum, um den Arzt zu begleiten. Nun waren die beiden alleine. Ulrich bangte im Stillen unermessliche Qualen, weil er sich so sehr um seine Kollegin und langjährige Freundin, sorgte. Diese lag immer noch auf dem Sofa und wand sich unter schlimmen Krämpfen. Schon wieder hatte sie das Bewusstsein verloren. Als der Arzt nun endlich die Umkleide betrat, befühlte er ihren brettharten Bauch. Sie wurde unverzüglich auf eine Trage gehoben, um schnellst möglich ins Krankenhaus gebracht zu werden. Als der Raum schon fasst leer war, saß noch immer eine zusammengekauerte Person auf dem Boden und flüsterte im Mondschein: „Melly, ich liebe dich!“
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