Durch das wiederholte Lesen von P&P und die Beschäftigung mit Lydias Charakter ist mir der Gedanke gekommen, dass wir Lydia in gewisser Weise Unrecht tun. Da spielen viele Faktoren zusammen, angefangen mit ihrer Position in der Familie Bennet. Sie wird zwar von der Mutter favorisiert, hat aber keine Möglichkeit sich von den Schwestern abzusetzen, dazu ist sie zu "mittelmässig". Jane ist die gekürte Schönheit der Familie und Lizzy brilliert mit Zunge und Verstand. Was also bleibt Lydia? Sie könnte sich ein unschlagbares Talent aneignen, wäre da nicht einerseits vermutlich eine gewisse Bequemlichkeit und das Problem, dass z.B. das Piano von Mary mit Beschlag belegt wird. Mary, die weder über Schönheit, noch über hohe Intelligenz verfügt, und als Mittlere mit Ehrgeiz und Beharrlichkeit, sich fast verzweifelt bemüht ausserordentliche Fähigkeiten zu erlangen, auch wenn dies ohne nennenswerten Erfolg.
Lydia ist weder wirklich dumm, noch gedankenlos, und alle ihre Handlungen erklären sich aus ihrem Charakter, ihrer Person und nicht zuletzt ihrer Präferenz bzw. Lebensphilosophie. In unseren Augen, und denen der Familie handelt sie, zumindest stellenweise falsch, in ihren eigenen Augen jedoch ganz richtig. Um sie zu verstehen, müssen wir uns ihre Situation vor Augen führen.
- Der Lebensinhalt fast jeder Frau ist es zu heiraten und Stammhalter zu gebären. Nichts anderes hat sie im Sinn.
- Sie lebt auf dem Land und hat kaum Möglichkeiten interessante Männer kennenzulernen, denn der Vater hasst London, begibt sich überhaupt recht ungern auf Reisen, und die Mutter fährt nicht ohne ihn. Die "Jungs" der Umgebung kennt sie vermutlich in- und auswendig, und findet sie wenig anziehend. Fragt sich, ob sie überhaupt eine "gute" Partie für sich finden liesse.
-Nicht zu vergessen die Langeweile. Was soll sie nur den lieben, langen Tag tun? Sticken, Teppiche knüpfen? igittt. Lesen? Och nö, da könnte sie sich doch die Augen kaputtmachen...
- Bingley hat nur Augen für ihre Schwester und Darcy steht völlig ausser Frage. Interessant übrigens, dass sie augenscheinlich nicht einmal versucht Bingley schöne Augen zu machen, auch wenn der nur Jane zu sehen scheint.
- Da trifft es sich gut, dass das Militär in der Nähe stationiert wird. Das steigert ihre Chancen enorm, zumal sie, wie Muttern, auf Uniformen steht, zumal Soldaten das Flair von Mut, Stärke und Aufregung umweht.
-alles, was Lydia in die Waagschaale werfen kann, um in ihren Augen einen akzeptablen Mann zu finden, ist ihre ansteckende Fröhlichkeit, ihr Lebenshunger und ein gewisses Aussehen. Mehr hat sie nicht zu bieten.
Das ist ihre Situation, als sie die Forsters kennenlernt, Wickham, Carter, und wie sie alle heissen. Anfangs guckt sie hierhin und dorthin, versucht sich ein Bild zu machen und zu sehen, welchen der Uniformierten sie wohl für sich einnehmen könnte, um ihn zur Ehe zu bewegen. Sie ist zwar erst fünfzehn, aber in dem Alter heiraten auch andere Mädchen, meist unfreiwillig. Zudem spricht die Mutter von einer Verlobung Janes mit Bingley, und die Zeit drängt. Lydia hat nämlich noch ein anderes Problem, sie will endlich nicht nur die Jüngste, also die LETZTE sondern endlich auch einmal die ERSTE sein.
Warum es Wickham sein musste? Ich glaube nicht einmal, dass sie keinem der anderen Herren den Kopf hätte verdrehen können, so wie es ihre Mutter zuvor bei ihrem Vater schaffte, schliesslich war sie ganz ihrer Mutter Kind und Ebenbild. Ich vermute mehr, es hat letztlich Wickham sein müssen, weil Lizzy Interesse zu haben schien, und ihn eigentlich die ganze Frauenwelt der Umgebung anzuhimmeln schien. Es wäre also, in ihren Augen, eine Auszeichnung seine Frau zu sein, es würde sie also über ihre Freundinnen und Schwestern erheben.
Vermutlich liegt darin auch der Grund für das fehlende Unrechtsbewusstsein. Wie kann sie falsch gehandelt haben, wenn sie IHN doch zuletzt gekriegt hat und als erste heiratet, also alle Schwestern (und ihre Freundinnen?) übertrumpft hat. Auf welchem Wege ist ihr egal. Sie zeigt sich gegenüber Darcy ja überzeugt, dass Wickham sie noch heiraten wird, egal wann. Sie hat ihren Ruf geopfert und ihre Weiblichkeit bzw. Sex benützt, um Wickham an sich zu binden. Für die damalige Gesellschaft war das falsch, unmoralisch und verachtenswert, aber ist es nicht bis heute noch so, dass Frauen Sex und/oder Schwangerschaften benützen, um Männer an sich zu binden? Da ist/war sie weder die Erste, noch die Letzte. Für eine fünfzehnjährige und angeblich dumme Göre, hat sie genaugenommen sehr zielgerichtet und überlegt gehandelt.
Kann man ihr Egoismus vorwerfen, und das sie dabei nicht an ihre Familie dachte? Einerseits sicher, aber vor Gericht würde man ihr zugutehalten, dass sie ihr Unrecht nicht als solches erkannte. Unter dem Strich kommt man dabei zu dem Ergebnis, dass es ihre Eltern waren, die es hier an Einsicht und Erziehung mangeln liessen. Lizzy hatte ihren Vater noch gebeten, Lydia nicht sozusagen allein nach Brighton reisen zu lassen, weil sie gewisse Schwierigkeiten voraussah, doch er wollte sie lieber sich ihre Hörner abstossen, bzw. auf die Nase fallen lassen. Wer dabei auf die Nase fiel, war letztlich ER, als Vater und auch die Mutter.
Beide hatten Sie mit ihrem Verhalten diese Entwicklung bei Lydia, die Färbung ihres Charakters unterstützt, statt dem entgegenzuwirken.
Und dass Lydia sich auf Wickham versteifte, wer mag es ihr verdenken, da sich doch auch eine wohlerzogene Georgiana Darcy in ihn verliebte oder zumindest verguckte?
