@Julia
Julia hat geschrieben:
Ich finde die Differenzierung eines negativ besetzten Charakters eigentlich nicht so ungewöhnlich. Zumindest nicht so ungewöhnlich, dass ein reeller persönlicher Bezug zur Person die einzige mögliche Erklärung ist.
JA gilt nicht umsonst als eine der ersten literarischen Realisten, und da gehört es meiner Meinung nach einfach dazu, die Welt (und die Menschen) nicht in schwarz und weiß einzuteilen.
Okay, das gilt dann aber auch für Wickham und Lydia?
Selbst für ihn kann oder muss man dann Verständnis haben, zumindest wenn man die damaligen Verhältnisse in die Betrachtung seines Charakters mit einbezieht.
Da ist zum Einen die tatsache, dass er wie ein unabhängiger Gentleman aufgewachsen ist und nun diesen Status beibehalten will, seine finanziellen Mittel dafür aber nicht reichen. Welche Möglichkeiten hat er nun, sich diese zu beschaffen ohne in die normale Arbeiterklasse abzusteigen?
Er sucht sich eine junge Dame aus reichem Hause, macht ihr schöne Augen und hofft sie in eine Situation zu bringen, in der ihn die Familie nicht ablehnen kann, denn er ist ja nicht dumm und ihm ist klar, dass ihn kein bemühter und liebender Vater mit offenen Armen empfangen wird. Jeder Vater will doch nur den Besten für seine Tochter (ausser vielleicht Bennet). Darcy z.B. hätte nie und nimmer zugestimmt, logisch also, dass Wickham Georgiana überredet nach Gretna Green zu gehen.
Sie hätte er dort auch freiwillig geheiratet.
Auch dass Wickham seiner Schulden wegen flüchtet, um seinen Gläubigern zu entkommen ist ganz normal. Viele flohen z.B. nach Frankreich um dem "Schuldturm" zu entgehen.
Dass er dabei Lydia mitnimmt, ist vermutlich das Einzige, was man ihm wirklich vorwerfen kann. Ich denke nicht, dass er das tat um Geld zu erpressen, denn er weiß ja, wie es um die Mitgift der Mädchen steht und dass Bennet keine Möglichkeiten hat ihm "groß" unter die Arme zu greifen. Die momentane Bezahlung der Schulden ist ja im Grunde nur das Stopfen eines Loches.
Die Frage, ob er Lydia mitgenommen hat, weil sie ihn amüsierte, weil er nur mit den unteren Körperregionen dachte (da ist er ja nun auch nicht der Einzige) oder weil sie sich im aufdrängte, können wir nur vermuten, nicht belegen. Vermutlich war es von beidem etwas.
Ich verstehe auch nicht ganz, warum Marianne stets euer ganzes Mitgefühl gilt, Lydia aber als "Flittchen" beschimpft wird. Sie ist gerade mal 15 als sie Wickham und die anderen Soldaten und Offiziere kennenlernt. Ihre Vorliebe zu Uniformen teilt sie mit ihrer Mutter und vielen Frauen, die ich kenne.
Kann man ihr wirklich einen Vorwurf machen, wenn sie sich in ihrem Alter in den Aufmerksamkeiten der Offiziere sonnt und sich auch nicht unbedingt sofort für einen entscheiden kann? Muss sie sich denn mit 15 schon für den Mann ihres Lebens entscheiden? Anderseits ist nicht gesagt, dass sie wirklich zu jung für die Liebe/Ehe ist. Einige Könige und Fürsten hatten Mätresse oder Ehefrauen die nicht oder kaum älter waren als sie. Die zeiten waren anders. Wenn man die Möglichkeit hatte einen mann in den hafen der Ehe zu locken, damit also die eigenen Versorgung zu garantieren, dann tat man das, bevor ihn eine andere wegschnappte. Wer zuerst kommt mahlt zuerst.
Das Einzige was man Lydia vorwerfen kann (oder doch nicht?) ist ihre sorglose Lebenslust und ihre Art sich keine Gedanken über die Folgen ihres Handelns zu machen, aber auch das mag man ihrem Alter zuschreiben und der fehlenden Erziehung bzw. Einflussnahme der Eltern zuschreiben.
Bliebe noch der Skandal, als sie mit Wickham auf die Flucht geht, allerdings mit der Idee in Gretna Green zu heiraten. Das ist eindeutig unmoralisch und verwerflich, aber auch das gehörte zur Romantik der damaligen Zeit, wenn man nicht wie Romeo und Julia sterben, sondern seine Liebe leben wollte. Man nahm sich also das Recht, sich für die Liebe zu entscheiden, zumeist gegen den Ratschlag der Eltern, und eben eine Liebesehe einzugehen, und keine "Zweckgemeinschaft".
Dass die Liebe und die Gefühle füreinander bald abkühlten (bei ihm schneller, als bei ihr) lag nun wieder in der Natur der Dinge.
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Grüsse, Caro
Avatar: Amelia Darcy (1754-1784)
Für 1 Jahr säe einen Samen, für 10 Jahre pflanze einen Baum, für 100 Jahre erziehe einen Menschen. chin. Weisheit