Was die kühle Atmosphäre in der Familie angeht:
Für mich wird es so dargestellt, als wäre die Familie Elliot einfach keine Familie, zumindest nicht, seit die Mutter gestorben ist.
Mary ist eh weg und ihr scheint auch keiner hinterher zu trauern, für Walter Elliot ist sie halbwegs gut untergebracht, tut seinem Ansehen keinen Abbruch, also ist der Fall erledigt und Elizabeth fühlt sich von Mary ja eher etwas degradiert, weil diese, obwohl jünger, verheiratet ist. Die einzige, für die Mary noch aktuell zu sein scheint ist Anne (sie wünscht sich, als es darum geht, wohin sie umziehen, unter anderem, in Marys Nähe zu bleiben).
Und Anne ist für die anderen ja eher eine Art Einrichtungsgegenstand, denn Familienmitglied. Sie darf nicht mit nach London, man bringt ihr anstandshalber halt ein Geschenk mit, aber das kann man ja, in Anbetracht der schlechten Finanzen auch bleiben lassen...
Und Sir Walter und Elizabeth scheinen mit sich selbst beschäftigt, Elizabeth, die natürlich eine weibliche Bezugsperson haben muss, holt sich lieber die gute Mrs. Clay ins Haus.
Ich frage mich schon ein bisschen, wie es Mrs. Clay überhaupt dahin gebracht hat. Der einzige Vorteil, den sie gegenüber Anne hat ist doch, dass sie Elizabeth was den Rang angeht
tatsächlich unterlegen ist, wohingegen sich Elizabeth Anne gegenüber zwar überlegen sieht, ihr in der Realität aber nur durch ihr Alter, also als Erstgeborene überlegen ist?
Mrs. Clay gegenüber kann sich Elizabeth also als
gnädig erweisen, indem sie ihr die Ehre gewährt, ihre enge Vertraute zu sein, bei Anne hingegen macht es keinen Unterschied, wie sie sie behandelt.
Lady Russell wird für mich im zweiten Kapitel eher realistisch dargestellt.
Sie ist "benevolent" (da schwant einem ja schon schlimmes!), aber nicht immer in der Lage, alles objektiv zu betrachten.
So sieht sie durchaus Annes Situation in der Familie und missbilligt sie, das rührt wohl daher, dass Anne für Lady Russell die eigentliche Nachfolgerin ihrer alten Freundin ist. (Überhaupt, einmal wird gesagt, Lady Russell mag Anne unter anderem deswegen so gerne, weil sie in ihr eben ihre Mutter erkennt - mir scheint es ein wenig so, als sei eben das der Hauptgrund für ihre Zuneigung. Nicht Annes eigene Person, sondern das an Anne, was sie mit ihrer Mutter gemeinsam hat.)
Andererseits ist das Klassensystem aber in ihrem Denken (sicher zeitgemäß, allerdings muss man schon sagen, dass nicht alle damals so gedacht haben können, sonst hätte sich Jane Austen zum Beispiel kaum damit beschäftigt.
) so verankert, dass sie, obwohl sie offensichtliche Fehler sieht, es für angebracht hält darüber hinweg zu sehen.
Und natürlich will sie das beste für Anne, Anne ist ja ihr Liebling, aber sie denkt eben auch, dass sie besser als Anne weiß, was das beste ist.
Das erscheint mir sehr realistisch, auf Leute mit der Einstellung trifft man täglich.
Da gibt's auch noch so eine schöne Spitze:
[...] and on many lesser occasions [Lady Russell] had endeavoured to give Elizabeth the advantage of her own better judgement and experience;
Natürlich ist Lady Russells Urteilungsvermögen besser, als das von Elizabeth, aber dass sie selbst es so hinzustellen scheint, sagt schon auch etwas aus.
Tina hat geschrieben:
Schnell ist man bereit, Miss Clay negativ anzusehen, obwohl man auch nicht viel über sie erfährt. Eigentlich versucht auch sie nur, für sich eine gute Partei zu machen. Nur kreidet man das den einen an und den anderen nicht.
Charlotte Lucas sagt ja, wage es nicht, mich zu verurteilen! Sie hat Angst, als alte Jungfer ohne jegliche Aussicht zu enden.
Eigentlich ist es doch immer das gleiche bei den weiblichen Figuren. Nur wann wird es angekreidet und wann nicht? Warum verzeiht Lizzy ihrer Freundin und Miss Clay wird schief angeschaut?
Naja, was grade die beiden Personen angeht, finde ich, spielt es auch eine große Rolle, mit welcher Einstellung sie jeweils ihrer guten Partie hinterherjagen. Bei Charlotte Lucas ist es offensichtlich, dass sie um ihre Versorgung im Alter besorgt ist, dass sie sehenden Auges den schrecklichen Mr. Collins in Kauf nimmt, weil die materielle Seite überwiegt. Für sie ist eine romantische Heirat eben nur eine Fantasie, nichts, was womit sie praktisch rechnen dürfte. Also eine pragmatische Einstellung.
Bei Mrs. Clay (nicht unbedingt im zweiten Kapitel schon) scheint es, mir zumindest, mehr so, als möchte sie eben eine gute Partie machen (sicher auch aus Notwendigkeit, die zwei Kinder müssen ja auch versorgt werden) um des gute-Partie-machens willen. Also bei ihr fehlt mir das Bewußtsein darum, dass sie sich quasi "unter Wert" (im moralischen Sinne) verkauft. Wenn sie einen gut gestellten, ihr übergeordneten, Partner abschleppen kann, dann ist das etwas, worauf sie stolz sein kann. Das ist dann eher eine auf Oberflächlichkeiten beruhende Einstellung, ganz im Sinne Sir Walters.