Das 31. Kapitel finde ich irgendwie seltsam, wenn ich es jetzt noch mal so lese. Vielleicht sehe ich ja Gespenster, aber irgendwie bekomme ich das Gefühl, das ganze Kapitel hätte wunderbar in Northanger Abbey gepasst – in eine Parodie auf Gothic Novels. Bisher habe ich Brandons Ausführungen immer mit großem Ernst gelesen, mit Empörung über Willoughby und Mitgefühl für den armen Oberst. Aber eigentlich ist das hier alles definitiv zu viel Erschütterung, fange ich an zu finden.
Das geht los mit der Situation: Brandon, der tapfere Oberst, ist zutiefst betroffen, er stammelt geradezu, immer wieder fehlen ihm die Worte, er muss sich sammeln, einmal heißt es sogar: „Er konnte nicht weitersprechen, erhob sich hastig und wanderte ein paar Minuten (!) im Zimmer auf und ab.“ Und bewegt von seiner Erzählung und seinem Kummer fehlen auch Elinor die Worte. Dann nimmt er auch noch ihre Hand, „drückte sie und küsste sie voll dankbarer Hochachtung“, wonach er noch mal „ein paar Minuten schweigende Überwindung“ braucht, bis er gefasst weiterreden kann. Und zwischendurch unterbricht er sich immer mal wieder mit schweren Seufzern. Und Elinor kann zwar nicht reden, aber kleine Ausrufe „zärtlichen Mitleids“ (!) entfahren ihr denn doch immer mal wieder. Meine Güte, so viel Melodramatik hat man selten! Ich kenne eigentlich keine Schauerromane (oder eher empfindsame Frauenromane um 1800 herum?), aber ich vermute, in denen gibt es ständig solche Szenen.
Dann natürlich die Geschichte vom gefallenen Mädchen, das heiter, liebreizend und unschuldig durch mehr oder weniger böse Machenschaften ins Unglück gestürzt wird – weil man es auf ihr Vermögen abgesehen hat! Sie ist ein Mündel, hilflos, wehrlos, arglos, ausgeliefert. Es kommt zur Zwangsheirat mit einem lieblosen Mann, der sie schlecht behandelt und sich mit anderen Frauen vergnügt, ihre Lage wird verzweifelt, sie erliegt einem Verführer, sie ist die klassische verführte Unschuld. Also wenn das nicht aus Udolpho oder Co. stammen könnte….
Aber es geht noch weiter: Es gibt einen jungen strahlenden Helden, der sie liebt, ja von Kind auf geliebt hat, der vor der Zwangsheirat bereit ist, mir ihr nach Schottland durchzubrennen, aber der Plan der Liebenden wird von einer verräterischen Zofe enthüllt. Er wird verbannt, sie eingesperrt, von jeglichem Umgang mit anderen Leuten ausgeschlossen, bis sie den verzweifelten Widerstand einer liebenden jungen Frau gegen die Heirat mit einem lieblosen Mann schließlich in ihrer Not doch aufgibt. Und was tut der junge Mann? Er geht in die Fremde, gleich nach Indien, um sein Leid zu lindern und ihrem Glück nicht im Wege zu stehen (man könnte auch sagen, er lässt sie im Stich, aber das ist ein anderes Thema), verfällt dort und irgendwie für den Rest seines Lebens (bis Marianne ihn erlöst!) in große Schwermut (!).
Und weiter geht’s: Der Vater, der immerhin das Schlimmste hätte verhindern können, stirbt bald, so dass das Mädchen ihrem bösen Mann ganz allein ausgeliefert ist. Sie begeht Ehebruch – und verfällt vollends dem Laster, sie endet im Schuldenkerker. Brandon sucht sie lange verzweifelt überall (der Retter sucht die gefallene Frau), ausgerechnet aus „Fürsorge für einen früheren Diener, der in Unglück geraten war“ (sowas ziemt sich für einen edlen Helden!), kommt er in den Kerker, wo er seine Ex-Geliebte findet, „im letzten Stadium der Schwindsucht“. Es geht ihr so schlecht, dass Brandon sich sogar dazu hinreißen lässt, zu sagen, ihr naher Tod sei sein „größter Trost“! Was für eine Tragödie!! Spätestens hier dürfte das Publikum erschüttert dreinblicken, die Damen weinen vermutlich in ihr Taschentuch. Es kommt aber noch dicker: Die gefallene Frau, an ihrem Unglück nicht gänzlich unschuldig, weil sie nicht standhaft war, muss sterben, während ihr Geliebter (natürlich) bis zum letzten Atemzug bei ihr ist. Aber die Frau hat in all ihrer Not stets ihr kleines Kind liebevoll behütet, das ist edel und rührend, ich sehe das Kindlein quasi engelsgleich aus dem Elend errettet.
Und es geht immer noch weiter: Die Geschichte wiederholt sich, das wieder unschuldige Mädchen geht ausgerechnet in den Sündenpfuhl Bath, schlecht behütet durch einen nachlässigen Vater einer Freundin, erliegt sie einem schamlosen Verführer, Willoughby, der sich flugs aus dem Staub macht, warum auch immer, aus Bosheit oder in jugendlicher Panik – am Ende bleibt auf jeden Fall, dass er einen schlechten Charakter hat. „Er hatte das Mädchen, dessen Jugend und Unschul er verführt hatte, in äußerster Notlage, ohne richtiges Zuhause, ohne Hilfe, ohne Freunde, ohne Kenntnis seiner Adresse allein gelassen.“ Heimlich bringt die geschändete Eliza ihr Kind zur Welt (wie sie acht Monate allein zurechtkam, lässt Austen offen). Und, oje, es kommt, wie es kommen muss: Der väterliche Held, Brandon, fordert den schändlichen Verführer zum Duell, weil ein Mann tun muss, was ein Mann tun muss – seltsamerweise kriegt aber keiner von beiden was ab (wie kann das sein?? Können die nicht schießen oder was?). Und dann darf der edle Held noch nicht mal reden, er sieht Marianne in ihr Unglück marschieren – und schweigt! Wenn das nicht auch noch tragisch ist! Vielleicht konnte er wirklich nichts sagen, aber tragisch ist es trotzdem.
Und jetzt das Finale: Die ganze Moritat vom gefallenen Mädchen kommt überhaupt nur auf den Tisch, weil die holde Marianne der holden Eliza so sehr gleicht – und der liebende und edle Brandon ihr Trost spenden will. Es gibt also eine Moral von der Geschicht, die rauskommt, weil es jemanden gibt, dem sie nutzen kann.
Also spinne ich? Oder stimmt hier was nicht? Nimmt Austen mich auf den Arm? Ist das Ironie? Meint sie das etwa ernst?
Übrigens gibt es jetzt nur noch einen einzigen Satz in diesem Kapitel, der mich wirklich anrührt: „Elinor seufzte über die angebliche Notwendigkeit eines solchen Schrittes, aber einem Mann und Soldaten gegenüber enthielt sie sich jeder Kritik.“ Da ist mir, als würde mal wieder Austen direkt reden, deshalb wirkt das auf mich authentisch – beim Rest hab ich jetzt große Zweifel.
Wobei mir klar ist, dass Brandons Geschichte von zentraler Bedeutung ist. Was die Frage aufwirft, warum Austen hier mit Motiven und Szenen aus Romanen hantiert, die sie sonst eher auf die Schippe nimmt. Damit das ganze nicht zuuu ernst und getragen wirkt? Oder ich bin komplett auf dem Holzweg.
Was meint ihr dazu?
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