Ich glaube, Du tust Edward unrecht, Caro. JA ist ja nun bekannt für psychologisch ausgefeilte Situationen und Beobachtungen - und mir scheint, sie hat Edwards Lage sehr sauber dargestellt. Lies bitte noch einmal das Kapitel 50, dort wird die Situation sehr, sehr überzeugend dargestellt, die Edward dazu verleitet hat, sich mit Lucy zu verloben. Dort steht ausdrücklich, dass Edward glaubte, er habe eine "unüberwindliche Vorliebe", dass er sich eingebildet habe, "dass ich verliebt sei" (sagt Edward selbst). Seine Gefühle waren also sehr tief und ernst - aus seiner subjektiven Sicht, aber die ist ja entscheidend, nicht, wie wir seine Gefühle nachträglich einordnen. Es wird auch fein erklärt, wie es dazu kommen konnte: Edward war kaum 19 (!), hatte nichts zu tun in der Welt, und "Lucy erschien mir in jeder Hinsicht liebenswert und zuvorkommend". Und er war im Umgang mit Frauen völlig unerfahren. Und Lucy hat ihn ziemlich sicher um den Finger gewickelt (das steht allerdings nicht im Text, aber es passt ja wohl zu Lucys Verhalten im gesamten Roman). Es war "eine dumme, alberne Neigung", sagt Edward, die ich zumindest sehr gut verstehen kann.
Und es geht noch weiter: Edward glaubt bis ganz zuletzt, dass Lucy für ihn die "selbstloseste Liebe" (Zitat Edward) empfunden habe! Deshalb war es für ihn aus zwei Gründen unmöglich, die Verlobung aufzulösen: 1. habe ich hier im Forum schon mal irgendwo gelesen, dass es ein erheblicher öffentlicher Skandal war, wenn ein Mann eine Verlobung auflöste (es sei denn, sie hat ihn betrogen oder so). Und 2. aber musste er davon ausgehen, dass er Lucy todunglücklich macht! Wir dürfen nicht vergessen, dass Edward Lucy erst durchschaut, als sie ihm am Ende des Buches schriftlich mitteilt, dass sie seinen Bruder geheiratet hat! Mehrfach wird erwähnt, wie wichtig es war, dass Edward "ohne eigenen Vorwurf" und "in allen Ehren" aus der Verlobung rausgekommen ist. Das scheint sehr wichtig gewesen zu sein.
Caro hat geschrieben:
Wäre er zutiefst verliebt oder zumindest verknallt, verschossen gewesen, hätte es die lange Verlobungszeit gar nicht gegeben, sondern sie wären gleich nach Gretna Green gegangen.
Aus dem Buch (Kap 22 und 24) geht recht deutlich hervor, dass es Lucy war, die darauf gedrungen hat, dass die Verlobung heimlich bleibt - und zwar so lange, bis Mrs. Ferrars stirbt. Sie hat glarkar vorausgesehen, was passieren würde, wenn die Verlobung bekannt wird: Mrs. Ferrars würde "in ihrer ersten Empörung bei dieser Nachricht ihren ganzen Besitz vermutlich Robert vermachen." (S. 169 in meiner Reclam-Ausgabe) Exakt das, was passiert. Lucy ist es, die Pläne schmiedet, wie sie doch noch an Geld kommen kann, man muss ihr "das Äußerste an mutwilliger Niedertracht" zutrauen (S. 423). Schließlich angelt sie sich Robert mit mehr oder weniger raffinierten Schmeicheleien. Es war also wohl so, wie du vermutest: Lucy hatte "die Hosen an".
Caro hat geschrieben:
Würde Edward dazu stehen, wäre er offener damit umgegangen. Er steht eben nicht zu der Verlobung, sondern erst als es quasi durch Dritte preisgegeben wird. Allein die Umstände zwangen ihn zu Lucy und der Verlobung zu stehen.
Edward erklärt, dass er es für seine "Pflicht" hielt, Lucy die Wahl zu lassen, ob sie die Verlobung auflöst oder nicht. Er steht uneingeschränkt zu seinem Wort. Du meinst etwas ganz Anderes: Dass er offen zu seiner Verlobung steht. Dazu wäre er sicher eher bereit, wenn er für Lucy noch irgendwas empfinden würde... Und wie gesagt: Ich denke, Lucy bestand darauf, dass die Verlobung geheim blieb. Ich weiß nicht, ob er in der Situation in die Öffentlichkeit gehen konnte. Versprechen (ich nehme an, Lucy hat ihm die Zusage abgenommen, zu schweigen) hatten ja damals offenbar eine größere Bedeutung als heute: Elinor verrät Marianne unfassbarerweise ja auch nichts von ihrer Notlage. Aber er sitzt das nicht nur aus: Wir erfahren von Anne Steele, dass er Lucy "angefleht" hat, die Verlobung zu lösen - Anne hat das Gespräch belauscht und erzählt es Elinor. (Bemerkenswerterweise schreibt dann ja Lucy an Elinor, dass sie
ihn gebeten habe, die Verlobung zu lösen....)
Caro hat geschrieben:
Ich kann es nicht einmal wirklich ritterlich und ehrenvoll finden, wenn man eine Kinderei durchzieht und zu einem Versprechen steht, bei dem man sozusagen nicht bei Sinnen war.
Ja, heute wirkt das seltsam. Aber damals herrschten andere Sitten, schätze ich. Jedenfalls in JAs Welt.
Caro hat geschrieben:
Edward hat ihr wohl nicht wirklich erklärt, dass er enterbt wird und ein armer Schlucker ist, sobald er sie heiratet. Die lange Zeit der heimlichen Verlobung hätte ihr zu Denken geben müssen. Wie gesagt, Edward hat eigentlich nur gehofft, das Schicksal oder eine heimlische Fügung, würden seine Probleme lösen.
Das schätze ich völlig anders ein - du machst Lucy zum Opfer, ich halte sie für die Täterin.
Caro hat geschrieben:
Elinor verliebt sich in erster Linie in seinen Geist. Und sie findet es ja nun gerade heldenhaft, dass er zu seinem Versprechen steht, auch wenn es aus falschen Gründen und in Vorspiegelung falscher Tatsachen (Lucys Seite) abgegeben wurde.
Elinor lobt seine "Hochherzigkeit", seine "Integrität", sein "Zartgefühl" und seine "Bildung", um nur ein paar Zitate zu bringen (vor allem aus Kap 23). Ich denke, Elinor hat exakt erkannt, was für ein guter Mensch sich hinter der schüchternen und unbeholfenen Art Edwards verbirgt. Er ist das genaue Gegenteil von Willoughby (wie schon mal erwähnt): Willoughby ist ein Blender mit nichts dahinter als Schurkerei, mehr Schein als Sein. Edward ist mehr Sein als Schein, ein anständiger Kerl, den (fast) keiner ernst nimmt, der im Zweifel aber seinen Mann steht, auf den man sich unbedingt verlassen kann.
Caro hat geschrieben:
War nicht Edward sogar im Unrecht, ein Versprechen abzugeben, das er gleich darauf bereute und eben nicht wirklich aktiv erfüllen wollte?
Beide waren im Unrecht, weil sie jung und (er jedenfalls) verliebt und etwas dumm (Edward) bzw. durchtrieben und berechnend (Lucy) waren. Er hat sein Versprechen aber keineswegs "gleich darauf" bereut, aus dem Text geht hervor, dass er dafür etwa ein Jahr gebraucht hat - so lange, wie man vernünftigerweise erwarten kann, dass ein verliebter Bursche braucht, um wieder zu Sinnen zu kommen, wenn seine Angebetete sich als die Falsche erweist.... Jane Austen ist in solchen Dingen sehr genau.
So, jetzt hab ich aber wirklich genug Lobgesänge auf Edward gesungen....
@Mathilda: Brandon find ich auch super, der alte Schlawiner...