Mir ist diesmal aufgefallen, dass Willoughby nicht ganz so gebildet ist wie Marianne - es ist ja offenbar so, dass er alles toll findet, was sie toll findet, auch wenn er die Bücher oder die Musik vorher gar nicht kannte. Es scheint, dass Marianne ihn im Sturm erobert...
Ich denke auch, dass Marianne bald sehr gute Gründe hat, daran zu glauben, dass er ernstlich was von ihr will - zumal in Zeiten, wo ein Spaziergang zu zweit schon fast ein Verlöbnis voraussetzte. Das ändert aber wohl nichts daran, dass sie sich in jeder Hinsicht unvernünftig verhält. Die Frage ist, schätze ich, nach welchen Maßstäben man "vernünftiges" Verhalten misst. Also aus Mariannes Sicht (idealistisch, schwärmerisch, romantisch) macht sie genau das Richtige: sie setzt sich über Konventionen, die einen zwingen, Gefühle zu unterdrücken, hinweg. Diese Konventionen sind aus ihrer Sicht in gewisser Weise unnatürlich (hier kommt wahrscheinlich Rousseau ins Spiel). Vielleicht könnte man sogar sagen, dass Mariannes Idealismus eine geradezu revolutionäre Kraft hat (ganz ohne Sozialkritik): Ihr Verhalten stellt die herrschenden Gepflogenheiten radikal in Frage. Sie ist extrem modern, wohl deshalb finden wir ihr Verhalten auch heute noch nicht gar so unsympathisch.
Auf der anderen Seite ist Elinor stockkonservativ. Für sie ist klar, dass man immer die Regeln einhalten muss, nie über die Stränge schlagen darf, nichts tun darf, was von anderen als unschicklich empfunden werden könnte (übrigens egal, wie dumm sich diese anderen ihrerseits verhalten). Sie würde eine verdammt gute Gouvernante abgeben, die ihre Moraltheorien bei wem auch immer gelesen hat.
Was ich mich dabei frage: Wenn Elinor uns so glasklar als die positive Heldin, als Identifikationsfigur, präsentiert wird, sagt das auch was über JAs Haltung aus? Klar, man soll nie den Fehler machen, allzu leicht Autor oder Erzähler mit Hauptfiguren zu identifizieren, aber andererseits: Dieses ganze Buch hat doch eine offensichtliche pädagogische Absicht, es ist ja geradezu ein Lehrstück - es wäre wohl auch etwas seltsam, anzunehmen, JA hab so gar nichts mit den von ihr gelehrten Positionen zu tun. Jane Austen, die konservative Tante vom Lande...
Egal, war nur so ein Gedanke.
Apropos Pädagogik: Marianne hat ja ihren ersten großen Schritt ins Erwachsenenleben getan, indem sie erkannt hat (in Kap 10), dass der Traummann, an dessen Existenz sie mit 16,5 nicht glauben mochte, eben doch existiert. Dass das ein Irrtum ist, hat auch so seine Ironie.