Noch mal kurz zu Kap 22: Ich hab mich gefragt, was Mrs Clay und Mr. Elliot wohl bei ihrem heimlichen Treffen beredet haben. Hatten die Zwei da schon einen Deal? Haben sie über ihre Pläne geredet? Oder hat er sie ausgeschimpft, wie Anne vermutet?
Also die große Szene im "White Hart" lässt mich noch nicht los. Seht ihr das auch so, dass Anne
nicht davon ausgeht, dass Wentworth sie hört? Vorher ist sie sich ja bei jedem einzelnen Wort, das sie sagt, bewusst, dass er mithört, manches sagt sie nur, um ihm etwas zu verstehen zu geben. Hier offenbar nicht. Sie ist emotional auch etwas aufgeladen, weil Mrs Croft gerade gesagt hat, dass sie "ungewisse" Verlobungen nicht richtig findet, also sich auf gut Glück verloben, in der Hoffnung, dass man einmal Geld genug zum Heiraten hat - exakt die Situation, in der Anne und der Captain damals waren, oder? Mrs Croft erteilt Anne hier unbewusst Absolution - und Wentworth hört es wohl.
Dann geht die Diskussion los. Wie mir scheint, geht da einiges durcheinander. Also erst argumentiert Anne mit dem
sozialen Hintergrund: Frauen haben nichts zu tun, ergo beschäftigen sie sich mehr mit ihren Gefühlen, die entsprechend intensiver sind als die der Männer. Da Benwick auch nichts zu tun hatte, wie Harville zu bedenken gibt, schwenkt sie sofort um und schlussfolgert, dass es dann wohl doch an der
Natur der Männer liegen müsse. Das findet Harville auch, aber wendet das Argument gegen Anne: Weil Männer stärker sind, sind ihre Gefühle stärker. Anne geht darauf ein, schlussfolgert aber anders: Weil Frauen schwächer sind, sind ihre Gefühle "zärtlicher". Gleich anschließend argumentiert sie wieder
sozial: Weil Männer so stark gefordert werden, können sie nicht auch noch weibliche Gefühle verkraften.
Dann gibt es noch das Geplänkel über die Rolle der Literatur, die lustigerweise laut Anne nichts zu sagen hat, und dann kommt Anne zu der weisen Einsicht, dass es wohl keine Einigung gibt, weil halt alle so ihre Vorurteile haben.
Im Finale, nach Harvilles Gefühlsausbruch inklusive Hand aufs Herz (leicht theatralisch), hält Anne die Männer wieder für fähig, jedes intensive Gefühl zu empfinden - sofern sie ein Ziel haben, Männer brauchen also ein Objekt der Liebe, was wieder nach einer
biologischen Erklärung klingt (vielleicht würde man heute sagen, dass ist so drin im Mann, seit er damals Mammuts gejagt hat, er braucht immer was zum hinterherrennen). Anne findet jetzt nur noch, dass Frauen an sich länger lieben, auch über den Tod oder die Hoffnung hinaus.
Also eine stringente Argumentation sieht anders aus.
Klar ist das keine Szene aus dem Debatierclub, beide Teilnehmer sind emotional tief betroffen, aber man hat schon den Eindruck, dass sich beide noch nicht lange mit dem Thema gedanklich beschäftigt haben, so wie sie hin- und herspringen.
Was mich übrigens mehr stört: Annes Pauschalisierung. Ich will ja jetzt nicht den Sozialkritiker raushängen lassen, zumal man Anne aus feministischer Sicht sicher auch loben kann für ihre Einsichten, aber wenn sie von "uns Frauen" spricht, blendet sie ja wohl den größten Teil der weiblichen arbeitenden Bevölkerung aus. In Annes Gedankenwelt (und in Jane Austens?) gibt es diese Frauen offenbar nicht - ein Halbsatz wie "jedenfalls wir Frauen von Stand" (oder wie auch immer man das formulieren könnte) hätte den Rest der Welt nicht für unwichtig erklärt.