Miranda hat geschrieben:
Das letzte Kapitel wird nur aus der Sicht der Autorin geschrieben, schnell dem Ende zu. Oder? JA hat keine Lust mehr, sich mit guilt and misery aufzuhalten.
Den Eindruck habe ich schon seit einigen Kapiteln, genau genommen seit JA die ganze Handlung in Briefe verlegt hat. Und es gibt noch einen Unterschied zu den Schlusskapiteln ihrer anderen Romane: Nirgendwo packt sie dermaßen viel Handlung in den Schluss. Hier wird ja nicht nur beschrieben, wie es den Guten und den Bösen ergeht, sondern auch noch einiges berichtet, was bereits passiert ist, z.B. wie Henry wieder auf Maria verfallen ist. Und der Ausblick ist, glaube ich, nirgendwo so gerafft: Ein doch im Grunde wirklich zentrales Ereignis des Romans, nämlich dass Fanny ihren Edmund kriegt, wird einfach lapidar aufgeschrieben. Noch in diesem Kapitel scheint es, als ob Edmund sich unmöglich vorstellen kann, je mit einer anderen Frau verheiratet zu sein - und dann bemerkt er, dass da ja noch die nicht mehr so kleine Fanny ist, die die perfekte Pastorenfrau abgeben würde. Da hat er endlich mal recht... Ich muss ja nun nicht noch 100 Seiten lesen, wie Edmund sich ganz langsam in sie verguckt, aber muss das denn so knapp abgehandelt werden? Wie war das bei Marianne und Brandon? Was das auch soo kurz und knapp?
Ich denke ja immer noch, dass das Thema Erziehung für MP sehr wichtig ist. Deshalb halte ich Sir Thomas Erkenntnisse auch für bedeutsam. Hier entwirft JA Richtlinien für eine "gute" Erziehung, schätze ich. Sir Thomas hat "das Richtige dem Zweckmäßigen geopfert und sich von egoistischen Motiven und gesellschaftlichen Erwägungen" leiten lassen - aus dieser Kritik ergibt sich doch ein für die Zeit bemerkenswert moderner pädagogischer Ansatz, oder? Und derlei Einsichten, vor allem auch in Bezug auf Mrs. Norris, hat er noch mehr. JA schreibt darüber ne ganze Menge - nicht zuletzt hat es Maria und Julia offenbar an "Religion" gefehlt... Ich habe mich gefragt, ob Sir Thomas nicht jetzt trotzdem wieder zu hart reagiert: Dass Maria nicht heimkehren darf, weil das eine Beleidigung für die Nachbarn wäre - passt das zur christlichen Nächstenliebe? Aber offenbar sind ja alle froh, dass Maria weg bleibt. Und JA schickt sie ja auch in die "Hölle" mit Mrs. Norris.
Julia hat geschrieben:
Abgesehen von der Form, finde ich es hier ganz bemerkenswert, wie explizit betont wird, dass es auch hätte anders kommen können: Hätte es Henrys Rückfall nicht gegeben, hätten Mary und Edmund irgendwann geheiratet und somit auch Fanny und Henry früher oder später. Ist natürlich alles nur hypothetisch, aber steht trotzdem in krassem Gegensatz zur (vermeintlich) moralisch-stabilen Botschaft. Dass JA das so herausstreicht, zeigt für mich, dass das moralische Wertesystem innerhalb des Romans doch nicht so eindeutig ist, wie man versucht ist zu glauben.
Das finde ich auch sehr interessant. Zumal JA schreibt, dass das ganze Unglück nur passiert ist, weil man Henry gegen seinen Willen genötigt hat, zu der Party bei den Frasers zu gehen, wo er Maria traf und das Verhängnis seinen Lauf nahm. Henry und Mary
waren also entwicklungsfähig. Allerdings finde ich nicht, dass das die "moralisch-stabile Botschaft" ins Wanken bringt. Denn JA schreibt ja: "Hätte er mehr verdient, dann hätte er zweifellos auch mehr gewonnen." Ihr Urteil bleibt also knallhart. Er
sollte bestraft werden, weil er sich zu oft fehlverhalten hat. Auch sonst fegt JA hier mit eisernem Moral-Besen durch die Geschichte, so dass ich nicht finden kann, dass die Moral wackelt. Es gibt die Chance auf Erlösung für die Bußfertigen, das stimmt, wer sich jedoch nicht würdig erweist, wird verdammt. (Ich glaube, in keinem Buch von JA geht es so religiös zu, deshalb übertreibe ich mal mit der Wortwahl...)
Zitat:
Der Umkehrschluss könnte gar lauten, dass Fanny und Edmund als moralische Leitfiguren "versagt" haben, weil sie es nicht geschafft haben, Menschen, die sie lieben (und auf die sie somit mehr Einfluss haben als jeder andere) von ihren Wertvorstellungen und Lebensanschauungen effektiv zu überzeugen.
Dass Edmund versagt, finde ich auch. Fanny dagegen ist die strahlende Siegerin, ihre unantastbare Moral setzt sich am Ende durch. Also ich würde nicht sagen, dass Fannys Triumph größer gewesen wäre, wenn sie Henry bekehrt hätte - dafür waren die Voraussetzungen einfach falsch. Und dann wäre der Roman wohl endgültig zum Handbuch für Missionare geworden...